Marlene sang wie einst in Berlin
Gastspiel in Bad Kissingen: Ein Wiedersehen mit der kessen Lola und den zwanziger Jahren

BAD KISSINGEN. (Eig. Ber.) Sie kam in dem Kleid aus Las Vegas, dieser Tüllhaut „aus Brillanten und einem Nichts“, aber sie ist kein amerikanischer Superlativ, ja nicht einmal die lebendige Reklame eines kosmetischen Wunderpräparates. Sie ist die unvergleichliche „kesse, Lola“ der zwanziger Jahre geblieben. Mit Marlene Dietrichs Gastspiel im Regentenbau in Bad Kissingen, dessen tausend Sitzplätze nur eben zur Hälfte besetzt waren, feierten die „rolling twenties“, die Glanzjahre Berlins, Wiederauferstehung. Die Frau, die damals eine Bresche in die Girl-Dressur schlug und den „Sex appeal mit Charakter“ kreierte, die Sternberg-Lola, die gescheit genug war, aus dem Idol fast so etwas wie ein Ideal zu machen, sie ist zwar älter geworden, aber sie ist die starke künstlerische Persönlichkeit geblieben.

„Auch wenn sie nichts außer ihrer Stimme hätte, würde sie euch damit das Herz brechen!“ schrieb ihr guter Freund Ernest Hemingway von ihr. Nun, sie hat noch immer mehr als ihre Stimme. Wenn sie in Frack und Zylinder, mit Stöckchen, zwischen die Girls aus Shaw Hitchcocks Ballett tritt, ist sie noch immer die großartige Diseuse, der die Welt zu Füßen liegen muss. Auf einsamer Höhe ist Marlene Dietrich sie selbst geblieben: Die Lady, die vom Laster singt. Provozierend, mit lässiger Anmut, wie ehedem im „Blauen Engel“, stellt sie ihre „welterschütternd schönen“ Beine zurecht, ist sie nonchalant und schlendert lässig, so aufregend lässig über die Bühne. Wenn sie ihre Stimme aus dem Rauchfang holt und ein Chanson von damals, „Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht“ oder „Ich bin die fesche Lola“, „Johnny, wenn du Geburtstag hast“ und wie sie alle heißen, anstimmt, ist sie ganz die alte Schule von Claire Waldoff.

Das Kissinger Publikum respektierte dieses Wiedersehen nicht nur als Wiederkehr eines berühmten Stars. Marlene Dietrich drehte die Zeit zurück. Auch diesem Erlebnis galt der Beifall der gut 500 Zuschauer, die diese Heimkehr des „Blauen Engels“ mit Eintrittspreisen zwischen zehn und 40 DM zu begleichen bereit waren. Dennoch werden die Manager Norman Granz und Kurt Collien für diesen Abend der Künstlerin einiges zulegen müssen. Die Bäderverwaltung zahlt der Diseuse von Weltruf, die auch heute noch von dem exhibitionistischen Getue der Nullachtfünfzehn-Flimmerstars unerreicht geblieben ist und höchst damenhaft freche Lieder singen kann, nur 20.000 DM Gage für diesen Abend, den sie der Tatsache zu verdanken hat, dass Essen in letzter Minute auf das Gastspiel verzichtete.

Hatte dieses Gastspiel mit dem Aime-Barelli-Orchester unter Leitung des begabten Burt Bacharach bei aller Begeisterung an der unverwelklichen Ausstrahlungskraft Marlene Dietrichs für das Publikum den wehmütigen Beigeschmack, eine Erinnerung an damals zu sein, so blieb auch die Künstlerin an diesem Abend in Deutschland nicht von wehmütig-bitteren Überlegungen frei. Bei einer Pressekonferenz im Kurhaushotel widersprach sie Kurdirektor Göbig, der die leeren Stuhlreihen auf „Stimmungsmache in der Illustriertenpresse“ zurückführte. In einem eleganten weißen Pariser Kostüm, dessen halsfernen Kragen nur ein winziges rotes Bändchen zierte, das Kreuz der Ehrenlegion, die Spuren der Anstrengung im Gesicht, aber unerhört wach und klug, registrierte Marlene Dietrich ihre Erlebnisse auf dieser Deutschlandtournee: „Erst waren sie böse, weil ich nach USA ging, als ich nicht wiederkam, waren sie böse, und nun, da ich gekommen bin, sind sie auch böse.“

Auch in Bad Kissingen war Frau Dietrich beim Verlassen des Regentenbaues auf dem Weg zum Kurhaushotel von Jugendlichen mit Pfiffen und Buh-Rufen empfangen worden. „Den Kindern nehme ich es nicht übel“, sagte sie, „aber den Zeitungen. Meine besten Kritiken auf dieser Tournee hatte ich in Deutschland. Aber die böse Reaktion in der Presse hilft vielleicht, Zeitungen zu verkaufen“, fügte sie ironisch und mit offener Anspielung auf einen Hamburger Verleger hinzu. Den schlechten Besuch des Regentenbaues entschuldigte Frau Dietrich mit dem Hinweis: „Ich kann gut verstehen, dass die Menschen beim heutigen Weltgeschehen keine Schau besuchen wollen, alle machen sich doch Sorgen.“

Main-Post, Würzburg, vom 23.05.1960