Marlene kam, sang und siegte
Marlene Dietrich im Baden-Badener Kurhaus stürmisch gefeiert

Baden-Baden (H. W.) – Alle Pessimisten wurden dementiert. Der Bühnensaal des Baden-Badener Kurhauses war am Montagabend nahezu ausverkauft. Das Marlene-Dietrich-Gastspiel stand ganz im Zeichen eines großen Ereignisses. Neugierige drängten sich im Kurgarten und beim Aufgang zum Saal. Zu sehen bekamen sie sehr elegante Toiletten der Damen, sommerlich legere Herrenanzüge, hören konnten sie, dass Baden-Baden seinem internationalen Ruf wieder einmal die Ehre machte. Ein halbes Dutzend und mehr fremder Sprachen schwirrte durcheinander.

Viel Ruf und Rühmens war Marlene Dietrich seit ihrem Deutschlandstart in Berlin vorangeeilt. Das hatte sich zusammen mit der Marlene-Legende (schwer zu sagen, aus welch verschiedenen Quellen es sich speist) zu einer Woge der Erwartung und Spannung angestaut. Doch ihr wurde zunächst noch einiger Halt geboten. Ein brillantes, virtuoses Schau-Orchester, angeführt von einem phänomenalen Trompeter strapazierte die Trommelfelle und peitschte die ersten Beifallsalven heraus. Ein famoser Stepper, akkompagniert von einem Ballett, präzise wie die Tiller Girls, gab den Ohren Erholung und den Augen einiges zu sehen.

Dann kam sie, Marlene Dietrich, die unvergessene tolle Lola, die großartige „Zeugin der Anklage“. In der berühmt-berüchtigten hautengen, diamantenfunkelnden kostbaren Robe, die ein riesiger weißer Nerzpelz wie ein Blütenkelch umschloss. Der linke Arm, in Wiesbaden bei einem Sturz von der Bühne angebrochen, war von einer Schlinge fest an den Körper gebunden und unbeweglich gemacht. Ein ärgerliches und zugleich recht schmerzhaftes Handicap für das Temperament der Künstlerin.

Das Orchester begann wieder, lange nicht mehr gehörte Melodie: Ich bin von Kopf bis Fuß au Liebe eingestellt … der Song, mit dem sich die Dietrich Film, Ruhm und Hollywood eroberte. Rau, kess und aggressiv tönt die Stimme in den Saal, fasziniert, weckt Erinnerung und ersten stürmischen Beifall. Und nun wechseln in bunter Folge Chansons und Songs, deutsch, englisch, französisch, sentimentale, kesse, süße und bittere, herausfordernde und streichelnde, Chansons und Songs aus Filmen, aus Operetten, Schlager von einst, fast wird es zum Schluss wehmütig, wenn sie das Hobellied, wenn sie „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ singt. Inzwischen hat sie die große Abendrobe mit keckem Frack und Zylinder vertauscht. Schmerzlich spürt das Publikum mit ihr die Armschlinge, die das Temperament bändigt, die ihr nicht erlaubt, sich voll auszuspielen. Doch große Künstlerin, die Marlene Dietrich ist, wird sie auch mit dieser Behinderung fertig und überspielt sie mit ebensoviel Sicherheit wie mit bezauberndem Charme. Überhaupt, über wie viel Können, über welche Skala des Ausdrucks, über wie viel natürliche Anmut verfügt diese Künstlerin, jede Nuance sitzt, jede Pointe kommt an, beste Hollywood-Schulung. Mit diesem Können spielt sie auf dem Instrument Publikum, verführt es zu Tränen, reißt es mit kecker Kessheit hin, die in Beifallsstürmen sich Luft macht. Und alles scheint einfach, natürlich, selbstverständlich, aus dem Augenblick geboren und ist doch das reife Ergebnis einer langen Schulung, intensiver, unablässiger Arbeit und – jener einmaligen großen Begabung, die das Phänomen Marlene Dietrich heißt.

Minutenlang umwogt sie am Schluss der Beifall eines Publikums, das langsam nur aus seiner Verzauberung erwacht.

Wenig später erscheint sie im einfachen Kleid, fast ohne make up, etwas müde, aber doch spürbar angeregt von dieser neuen Perle in der Kette der Erfolge ihrer Deutschland-Tournee auf einem kleinen Empfang, den Oberbürgermeister Dr. Schlapper im Kurhausrestaurant für sie gab. Ihr zur Seite sitzen das Schauspielerehepaar Bernhard Wicki und Agnes Fink, die gerade in Baden-Baden sich aufhalten. Angeregt plaudert und erzählt Marlene Dietrich, eine natürliche Frau ohne Prätention und Starallüren. Namen großer Weltstädte, in denen sie überall aufgetreten ist, Namen bekannter Schauspieler und Schauspielerinnen aus ihren deutschen Anfängen, aus der Hollywooder Gegenwart werden genannt, gelegentlich wird sie etwas bitter, wenn sie auf dumme Angriffe zu sprechen kommt, aber immer wieder ist sie toleranter als manchmal ihre Gesprächspartner.

Nur ungern verlässt sie trotz schmerzenden Arms und vorgerückter Stunde den Kreis, um die Spielbank noch zu besuchen. Im Augenblick ist sie von den Räumen fasziniert, stellt temperamentvoll fest, dies sei die schönste Spielbank der Welt und Spiel mit Gold- und Silberjetons gebe es nicht einmal in Las Vegas. Vergnügt nimmt sie ein großes goldenes Jeton entgegen, das ihr die Spielbankdirektion zur Erinnerung überreichen lässt. Aber ihr Glück am Spieltisch versucht hat sie nicht. Vielleicht ein anderes Mal, denn, was sie bisher nirgendwo in Deutschland gesagt hat, spricht sie hier aus: „Baden-Baden hat mir so gut gefallen, dass ich wiederkommen möchte, im Sommer vielleicht zur Erholung und dann mit meiner Tochter“. Ein großes Kompliment einer Frau, die wohl wie wenige die Orte kennt, an denen sich die internationale Welt ein Stelldichein gibt.

Am Dienstagvormittag ist Marlene Dietrich mit ihrer Truppe weitergefahren nach Zürich, wo sie am Abend wieder aufzutreten hatte, noch immer mit schmerzendem und eingebundenem Arm, denn es wird gute drei Wochen dauern, bis er einigermaßen wieder aktionsfähig sein wird.

Badisches Tagblatt, Baden-Baden, vom 24.05.1960