Göttin Marlene
Sie singt und tanzt und lächelt durch Europa

J. M.-M. Marlene Dietrich ist eine geniale Frau. Gewiss gibt und gab es Schauspielerinnen – einige –, die noch besser im Film waren als sie, von der Bühne nicht zu reden; vielleicht gab es auch Stars – wie die Garbo –, die schöner, noch schöner waren als sie; sicherlich gibt es Chanson-Sängerinnen, denen – wie die Piaf – reichere Register zur Verfügung stehen. Marlene Dietrich hat zwar in allen Künsten, deren sie sich annahm, brilliert. Aber ihr Genie erschöpft sich nicht darin. Ihr Genie ist marlenisch. Das Marlenische an Marlene ist dreierlei: Vitalität, Präzision und Herz.

Als sie in Hamburg auftrat, passierte dies im Hause der Staatsoper. Da fehlte natürlich die Night-Club-Atmosphäre, die dem Titel „Marlene-Dietrich-Schau“ entsprochen hätte. Nachts elf Uhr. Helmut Käutner hatte die Rolle des Prominenten übernommen, der die Prominente „nach internationaler Sitte“ vorzustellen hatte. Er machte das charmant, charakterisierte Marlene als die Persönlichkeit, die nie den Mantel nach dem Wind gehangen habe, und sagte, es handele sich nicht um die schönsten Beine und die jüngste Großmutter der Welt, sondern um Leistung.

Er hatte recht und erhielt einen Kuss dafür. Vorher hatte das Orchester des meisterhaften Trompeters Aimé Barelli bald äußerst kräftig, bald äußerst zart etwas gespielt, was man die französische Variante auf den amerikanischen Jazz nennen muss. Das Opernhaus, gefüllt mit gut angezogenen Damen und Herren aus Hamburg, passte so schlecht zu dieser Musik, die in einem Pracht-Varieté herrlich geklungen hätte, dass man sich fragen musste: „Ob das wohl gutgeht?“ Zur rechten Zeit senkte sich ein Schleier vorm Orchester nieder. Und dann kam sie …

Schwanenfeder-Mantel mit langer Schleppe, schneeweiß. Ein weißes Glitzerkleid, hauteng und nichts darunter. Ein Kleid, auf dem so viele kleine Lichter reflektierten, dass jene, die hinterher sagten, man habe „alles sehen“ können, verflixt schnelle Augen gehabt haben müssen. Ich, der ich nicht das Glück hatte, auf einem Platz für hundert Mark zu sitzen, sondern mit einem zu „nur“ sechzig Mark hatte vorliebnehmen müssen, sah nicht einmal die berühmten Beine. Aber ich sah Marlene.

Ach, sie ist immer noch wunderschön. Warum auch nicht? Wie kläglich wäre diese Welt, wenn nur ein junges Gesicht Schönheit besäße! Auch ist es ja nicht so, dass ein Mensch wie der andere altert. Zwar hat Marlene – eine Freundin ärztlicher Wissenschaften und Künste – ein bisschen nachhelfen lassen. Aber das ist es ja nicht. Lasst sie getrost älter werden – sie wird ihre marlenische Schönheit behalten an Haupt und Gliedern.

Ihre Stimme und ihr Lächeln – sie vor allem vergehen nicht, denn in ihnen spricht am deutlichsten das Genie ihrer Persönlichkeit. Es ist, wie bekannt, eine „rauchig“ tiefe Stimme, aber es ist kein „Damenbass“. Es ist eine bewegliche, warme, menschliche Stimme, und oft hat sie „Mittellage“. Und wesentlich ist, dass sie nicht zuviel Tremolo der „Vox humana“ hat und nichts von „Kuhwärme“. Alles liegt darin: Herzlichkeit, Ironie, Spaß, Clownerie, Hitze, Eis. Ihre Stimme verrät: Wenn hier eine Berlinerin – die Berlinerin der zwanziger Jahre – zur Amerikanerin wurde, so war es kein weiter Weg.

Übrigens sang sie deutsche, französische, amerikanische Chansons – jeweils nach ein paar erzählenden Worten –, und es waren auch Lieder dabei, die all jene, die Ende der zwanziger Jahre jung waren, mit Seligkeit erfüllten: „Jonny, wenn du Geburtstag hast, bin ich bei dir zu Gast die ganze Na-acht.“ Ach, Marlene! Hier klang dann zart – wie im Chanson der „Kessen Lola“ gebührend grob – auch noch eine Spur Berlinisch mit, wie man's zwischen Berlin-W und Potsdam spricht, mit einem fast unmerklichen „Zungenanstoßen“. Ach, die schöne klare Luft über Babelsberg und überm Wannsee!

War doch, als drinnen Marlene sang, ein junger Mann draußen aufmarschiert mit einem bescheidenen Plakat: „Marlene, hau ab!“ oder so ähnlich. Ein Schutzmann hatte es gesehen und gesagt: „Lassen Sie das!“ Und da hat er's gelassen. Drinnen, im Opernhaus, waren 1500 Menschen so gefesselt, so bezaubert, dass die Geschichte vom dem Jüngelchen mit seinem Plakätchen draußen ganz unglaubwürdig schien. Ein Lächeln Marlenes, und all diese Geschichten waren weggeputzt.

Sie lächelte im Glitzerkleid und dann auch im Frack ihr schönes, immer noch verführerisches Marlene-Lächeln, das am besten erklärt wird durch eines ihrer Lieder, das sie leider nicht sang: „Nimm dich in acht vor blonden Frauen, sie haben so etwas Gewisses…“ Also: Auffordernde Warnung und guter Rat, es nicht allzu wichtig zu nehmen.

So also war's: Marlene trat als eine Göttin der Verführung auf, der Rahmen ihrer Schau freilich war äußerst amerikanisch. Weniger wäre (für Hamburg) mehr gewesen. Aber dass jede Geste, jeder Schritt, jede Betonung „saß“, alles voraus berechnet, nichts der Improvisation oder der Laune überlassen, das imponierte um so mehr. Sogar die Tatsache, dass der Vamp zuletzt im Frack die Beine höher warf als die Ballettmädchen. „Durften sie nicht oder konnten sie nicht, die armen, bescheidenen Dinger?“ Soviel sagten einige Besucher beim Weggehen über das Ballett. Und mehr war darüber auch nicht zu sagen.

Die Zeit, Hamburg, vom 13.05.1960