Marlene in München
„Ich bin nicht so dramatisch“

Von Sabine Michael

Sie ist also wirklich nach München gekommen: Marlene Dietrich, die als ein Nichts (das sind ihre Worte) vor rund 30 Jahren von Deutschland wegging und die jetzt als heiß umstrittener Weltstar wiederkommt.

Am Donnerstagmorgen, um drei Uhr, traf die nimmermüde dreifache Großmutter im Hotel „Kontinental“ ein. Schlafen – das kann sie nicht mehr, seit sie vor ein paar Tagen in Wiesbaden einen „Fehltritt“ von der Bühne tat und eine Fraktur der linken Schulter davontrug. Der linke Arm ist mit einem Dior-Rose-Chiffonschal an das weiße Rohseidenkleid festgebunden. Der geschwungene Strohhut und – das ist Zufall – sogar das winzige Band der französischen Ehrenlegion, das sie auf dem Kleid trägt, haben dieselbe Farbe.

Man spricht über dies und das. Über München zum Beispiel. „Kurz nach dem Krieg war ich mit der amerikanischen Armee hier“, sagt Marlene. ,.Damals sah ich, dass jemand auf die Feldherrnhalle mit Kreide die Worte geschrieben hatte: „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.“ Ich habe diese Inschrift photographiert. Später hat man mir diesen Ausspruch in den Mund gelegt. Aber er stammt nicht von mir. Ich bin nicht so dramatisch. Ich bin Schauspielerin – aber ich kann so dramatische Sätze nicht sprechen!“

Und ihre Eindrucke von Deutschland, Frau Dietrich? In Hamburg, sagt sie, habe sie selbst den glücklichsten Abend verbracht. „Weil ich in der Oper auftrat, und dann: man sagt, die Hamburger seien steif. Sie waren glühend begeistert …“

Berlin, die erste Station und ihre eigene Heimatstadt, habe sie kaum wiedererkannt – so modern sei Berlin geworden.

Das Publikum sei überall großartig. „Dass ein junges Mädchen in Düsseldorf auf mich gespuckt hat, das ändert nichts daran. Das Mädchen war damals, als ich emigrierte, noch gar nicht geboren. Mir tut es nur leid, dass ich keine Zeit hatte, mit ihr zu reden, aber der Zwischenfall geschah Minuten vor meinem Auftritt. Die jungen Menschen sind überall auf der Welt verwirrt.“

Hier flicht Marlene ein Paar Worte über die ihrer Freunde ein, die sie aus KZ’s retten konnte. „Im Anfang haben wir viele freibekommen. Zum Teil als Mönche und Nonnen verkleidet, gingen sie über die Schweizer Grenze.“ Einer ihrer alten Freunde ist zu der Pressekonferenz gekommen: Max Colpet, dem sie allerdings erst weiter helfen konnte, als ihm die Flucht gelungen war.

Begegnung in Baden-Baden

Nach Wiesbaden, wo sie sich die schmerzhafte Schulterverletzung zugezogen hatte, trat Marlene in Baden-Baden auf „Dort“, sagt sie und lächelt geheimnisvoll, „dort traf ich nämlich Bernhard Wicki. Ich habe einen ganzen Abend mit ihm verbracht.“

Die Dietrich hatte ihn gesucht. Das heißt, zunächst suchte sie nach seinem Film „Die Brücke“. „De Sica hatte mir von ihm erzählt. Ich suchte ihn überall, wo ich hinkam, und sah ihn endlich in Paris“. Dann versuchte sie, Bernhard Wicki in seiner Münchner Wohnung zu erreichen. Das misslang, aber in Baden-Baden kam er in ihr Konzert. „Leider, leider war das der Abend nach dem Unfall von Wiesbaden, und mir ging es besonders elend.“

Die Frage, ob sie mit Wicki einen Film machen möchte, kommentiert sie mit einem begeistert bestätigenden „Na …“ Überhaupt würde sie gerne in Deutschland filmen, wenn die Rolle „richtig“ wäre.

Ihren Plan, Hans Albers, den einen Partner aus dem „Blauen Engel“, am Starnberger See zu besuchen, muss sie wegen ihrer Schulterverletzung aufgeben. „Albers war immer nett zu mir. Jannings dagegen lehnte mich bis zum letzten Drehtag des ‚Blauen Engel’ ab, wie viele, die den Regisseur Sternberg für verrückt hielten, weil er mich engagierte. Sehen Sie, man fragt mich immer nach meinen Schauspieler-Kollegen von damals, aber schließlich war ich doch ein Nichts. Eine kleine Komparsin, die in Reinhardts verschiedenen Theatern – mit dem Bus von einem zum anderen eilend – je einen Satz in verschiedenen Stücken am selben Abend sprechen durfte, die Komparserie in ein paar Filmen machte. Und an die niemand glaubte, als Sternberg mir eine Hauptrolle im ‚Blauen Engel’ gab …" Übrigens: die stolze Mama Marlene schwärmt von ihrer Tochter. „Sie sollte in Deutschland Theater spielen“, meint sie. „Aber sie spielt überhaupt nicht mehr. Sie hat zu viele Kinder. (Es sind drei!) Und ihr Mann ist Italiener und sehr eifersüchtig.“ Ihn würde Marlene gern von dieser „Leidenschaft, die Leiden schafft“ kurieren. Aber er wendet sich nicht an ihren „Ratgeber für Liebesleute“, den sie mit großem Erfolg jedes Wochenende im NBC-Fernsehen abhält.

Marlenes nächste Pläne nach dem heutigen Münchner Konzert: Auftritte in Amsterdam und Scheveningen, etwas Ruhe bei Freunden an der französischen Riviera, und am 22. August muss sie wieder in Texas gastieren.

Ob dazwischen noch ein Gastspiel in Israel stattfinden wird, steht noch nicht fest. Im nächsten Jahr jedenfalls wird die „charmanteste Großmutter der Welt“ Australien, Japan, die Sowjetunion und den Orient bereisen. Und sicher mit ihren Songs aus dem „Blauen Engel“, die dieser Tage genau 30 Jahre alt sind, auch dort unzählige Freunde gewinnen.

Abendzeitung, München, vom 27.05.1960